Die Seeheimer Oberbayern fordern eine radikale Erneuerung der BayernSPD
Die katastrophalen Verluste vom Wahlabend vom 14. Oktober sind der traurige Tiefpunkt eines seit Jahrzehnten dauernden Abwärtstrends. Richtig ist, dass es für die Landtagswahl nicht gerade Rückenwind aus Berlin gab. Der Versuch, das desaströse Ergebnis auf die Bundespartei und deren Mitwirkung in der GroKo abzuwälzen, ist allerdings zu durchsichtig und soll wohl lediglich von den eigenen Versagen ablenken.
Gründe für die stetige Abwärtsentwicklung haben die Seeheimer Oberbayern bereits nach der Landtagswahl 2008 analysiert (Link). Die dort beschriebene, als notwendig erachtete Erneuerung der BayernSPD, beispielsweise durch die stärkere Förderung und Nominierung von erfolgreichen Kommunalpolitikern, wurde lediglich 2013 mit der Kandidatur von Christian Ude verwirklicht: mit bekanntem und beachtlichem Erfolg von über 20%! Ohne Christian Ude wäre wohl auch bereits bei der 2013-Landtagswahl ein Ergebnis deutlich unter 15% herausgekommen; gedankt wurde ihm dafür nicht, die erkaufte Zeit wurde nicht genutzt, sondern wurde verschenkt.
Was nun herbeigeführt werden muss: die BayernSPD muss sich wieder als Teil der bayerischen Gesellschaft begreifen und Ihre Außenseiterrolle beenden. Christian Ude hat dies bereits 2017 in seinem Buch „Die Alternative oder Macht endlich Politik“ eindringlich beschrieben. Dass er für dieses Buch von Teilen der Partei auf das Heftigste angegriffen wurde, sei hier nur am Rande ver-merkt. Wichtige Elemente seiner Vorschläge sind übrigens in dem Pressebericht seiner „Kartoffel-suppen-Rede“ vom Januar dieses Jahres auf unserer Homepage nachlesbar.
Nachfolgend stellen wir, die Seeheimer Oberbayern einige der wichtigsten und aus unserer Sicht unabdingbaren Maßnahmen und Thesen vor.
1. Mitmachpartei und Begrenzung von Mandatslaufzeiten
Mitmachen in der BayernSPD muss wieder Spaß machen. Hierfür müssen auf allen Ebenen Mög-lichkeiten geschaffen werden, sich aktiv einzubringen. Notwendig hierbei u.a. ist, mehr Rotation und Abwechslung bei der Aufstellung unserer Kandidaten zu organisieren. Daher fordern wir die BayernSPD auf, eine Begrenzung von Landtags- und Bundestagsmandaten von z.B. zwei Legislatur-perioden für SPD-Abgeordnete anzustreben; dies soll zumindest in der Wiederaufbauphase der Partei gelten. Demokratie lebt von mitmachen; Lebensphasen und Biographien von Menschen ändern sich, daher halten wir das Lebensmodell des Berufspolitikers für weitgehend überholt, zu-mal es Parteien immer stärker vom „Rest“ der Bevölkerung entfernt. Hierfür ist es entsprechend notwendig, Barrieren, die den Wechsel zwischen Beruf und Politik hindern, zu minimieren!
2. Vorpolitischer Raum und neue Mitglieder
Wir müssen wieder verstärkt Teil der bayerischen Gesellschaft werden. Hierzu muss zunächst kon-sequent um neue Mitglieder geworben und der sogenannte vorpolitische Raum ausgebaut wer-den. Wie schaut dies aktuell aus? Neumitgliedern wird, wenn sie denn dann mal wie Anfang 2017 beim sog. „Schulz-Hype“ zufällig eintreten, erst einmal erklärt, dass sie sich in der Parteihierachie nach oben dienen müssen, bevor sie vernünftig mitmachen oder gar Verantwortung übernehmen können.
Sollte ein Neumitglied dann evtl. auch noch weitere Mitglieder werben, so kommt es schnell in den Verdacht, einen Putschversuch zu planen. Die BayernSPD sollte aber ganz im Gegenteil dank-bar sein, wenn Bürger aus allen gesellschaftlichen Milieus bei ihr eintreten wollen. Und noch dankbarer, wenn Neumitglieder weitere werben. Hierfür sollte es also besondere Anerkennung geben. Grundsätzlich sollten Neumitglieder systematischer angeworben und in ihren ersten Taten unterstützt werden. Fazit: Neumitglieder, gerade mit Gestaltungsanspruch sollten uns willkommen sein, und solche, die es sich zutrauen auch Mandate anzustreben ganz besonders.
3. Akzeptanzprinzip wieder einführen
Die Auswahl der Kandidaten muss einem Akzeptanzprinzip folgen. Dies ist eigentlich eine Selbst-verständlichkeit und wird in allen größeren Parteien auch so umgesetzt. Nur die BayernSPD ist hierbei offenbar eine krasse Ausnahme! Wir fordern, dass Kandidaten für Landes- oder Bundesparlamente nur dann aufgestellt werden dürfen, wenn sie in der Lage sind, unsere gemeinsamen Inhalte auch zu vermitteln. Und in der Lage sind, Wähler für die BayernSPD zu begeistern. Ein wichtiges Kriterium wäre hierbei u.a. der Nachweis erfolgreicher kommunalpolitischer Arbeit, die vom Wähler auch bereits so bewertet wurde. Hinterzimmerpolitiker aber, die lediglich innerhalb der Partei wirken, nach außen nur schwer „vermittelbar“ sind, schaden als Kandidaten unserer gemeinsamen Sache. Kein Fußballteam, welches als Mannschaft gewinnen will, würde Spieler auf Positionen stellen, die ihnen einfach nicht liegen. So ist es auch in der Politik. Mitglieder, die Stärken in der Erarbeitung von Inhalten haben, nicht aber in der Vermittlung dieser Inhalte an die Wahlbevölkerung, müssen in der BayernSPD gewinnbringend für die gemeinsame Sache eingesetzt werden – beispielsweise in unseren zahlreichen Arbeitskreisen. Zum Tore schießen braucht man dann allerdings Stürmer. Christian Ude war 2013 ein europäischer Topstürmer, andere wären besser im Tor geblieben! Ein Vorab-Test ihrer Stürmerqualitäten auf kommunaler Ebene hätte dies bereits früher ans Licht bringen können.
4. Team statt Spitzenkandidat
Der Begriff „Spitzenkandidat“ ist aus unserer Sicht nicht mehr zeitgemäß. Wir sollten uns hier eher an den Grünen orientieren und ein Team benennen. Die BayernSPD braucht keinen Spitzenkandi-daten sondern ein starkes Team, das zusammenhält und gemeinsam die Inhalte und Programma-tik vermittelt. Pluralismus macht heute in einer individualisierten Gesellschaft eher stark und ist besser in der Lage, diese unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu erreichen und zu bedienen. In diesem Sinne müssen heutzutage politische Spitzenteams aufgestellt werden. Stadt und Land, Altbayern, Schwaben und Franken, gläubig oder konfessionslos, mit und ohne Migrationshintergrund, Arbeiter, Angestellte, Bauern, Beamte und Manager: wer Volkspartei sein will, dessen Führung kann vereinfacht gesprochen nicht nur noch aus Akademikern aus Großstäd-ten bestehen, die Größtenteils vorher im öffentlichen Dienst gearbeitet haben.
5. Wirtschaftliche Vernunft und Digitalisierung sichern Wohlstand und sozialen Aufstieg
Der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Bayern geht es gut. Sorgen bestehen eher um die Zukunft, als um das „heute“: Die demographische Entwicklung bedroht das Rentensystem, Elekt-romobilität und shared economy gefährden nicht nur unsere Automobilindustrie, sondern auch bewährte Geschäftsmodelle von Unternehmen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz wird zu struktu-rellen Änderungen führen und sektoral auch Arbeitsplätze vernichten, nationalistische Bestrebun-gen bedrohen Europa und die USA, wichtigster wirtschaftlicher wie sicherheitspolitischer Partner, sind ein schwierigerer Gefährte geworden.
Vor diesem Hintergrund, und um die aufgezeigten Sorgen zu entkräften, braucht es ein Zukunfts-konzept, das den Menschen Mut macht, Wege aufzeigt und nicht nur Ängste und Schreckenssze-narien beschwört. Nichts ist wichtiger in dieser Zeit des Umbruchs, als eine sozialdemokratische Vision, wie sie in den 50er Jahren durch das Godesberger Programm aufgezeigt wurde und in den vergangenen 60 Jahren die Bundesrepublik ganz wesentlich geprägt und das geeinte Deutschland zum heutigen sozial und gesellschaftlich florierenden Land gemacht hat!
Entsprechend ist unsere Vision – und unser großes Vorbild Helmut Schmidt wird uns diesen Begriff verzeihen – ein Bayern, das eine globale Vorreiterrolle in Zukunftstechnologien wie künstliche In-telligenz, nachhaltige Mobilität, digitale Infrastruktur in Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung, einnimmt und damit unsere Arbeitsplätze, unseren Wohlstand und unsere Fähigkeiten, unsere sozialen Standards dauerhaft zu sichern und auszubauen. Eine erneuerte SPD muss auf Optimis-mus, technologische Machbarkeit und Alltagstauglichkeit in gesellschaftlicher, sozialer und öko-nomischer Hinsicht setzen.
Um dies zu erreichen, brauchen wir vor allem eines: ein Hoch-Bildungsland. Konsequenter Ausbau der entsprechenden Studiengängen der bayerischer Universitäten, konsequente Förderung von Technologien, systematische Start-Up-Förderung, aktives weltweites Werben um Unternehmen und Talente ( wie es der Entwurf „Einwanderungsgesetz“ der SPD-Bundestagsfraktion vorsieht) sind einige der notwendigen Eckpunkte.
Und die derzeitige Realität? Außer dem permanenten Betonen der Zukunftsängste hört man von der BayernSPD zu den fundamentalen Umwälzungen durch Digitalisierung und künstliche Intelli-genz wenig bis nichts. Anstatt sich, in der Tradition einer Fortschrittspartei, die die SPD im Kern immer war, optimistisch um die menschenverträgliche und soziale Ausgestaltung dieser neuen Gesellschaft zu kümmern, werden viel zu oft Ängste geschürt, wird der drohende Arbeitsplatzab-bau beklagt und werden Datenschutzthemen überdimensional aufgeblasen. Ist das attraktiv? Nein, denn es schürt Ängste und bietet keine Lösungen.
Die SPD muss programmatisch wieder ein attraktives Zukunfts-und Gesellschaftsbild entwickeln. Gerd Schröder ist dies 1998 mit der Neuen Mitte gelungen.
Wir brauchen also eine „Neue Mitte 2.0.“!
6. Arbeit, Chancen, sozialer Aufstieg und Integration
Die SPD ist die Partei der Arbeit, nicht die Partei der Kapitalerträge aus Spekulationen, der Erb-schaften und Schenkungen. Dies muss wieder klar werden Von einer Partei der Arbeit muss ein konsequentes Versprechen ausgehen: dass mit Fleiß auch sozialer Aufstieg verbunden ist und es sich somit lohnt, sich anzustrengen.
Auf der anderen Seite muss gerade die BayernSPD endlich aufhören, an einem völlig diffusen und wenig greifbaren Umverteilungsmantra aus den 70er Jahren festzuhalten. Das interessiert den größten Teil der bayerischen Bevölkerung nicht, vermittelt ein Bild der BayernSPD als „ewig Gest-rige“ und beantwortet in keiner Weise, wie es Menschen zukünftig besser gehen kann. Wir müs-sen neue Konzepte entwickeln, um den arbeitenden Menschen wieder einen größeren Anteil am wirtschaftlichen Erfolg zukommen zu lassen.
Die BayernSPD muss, auch im Freistaat, wieder die Partei des sozialen Aufstiegs werden. Hierfür brauchen wir, neben schlüssigen Konzepten in der Bildungspolitik, um wieder mehr Chancen-gleichheit zu ermöglichen, auch ein Konzept, wie man Menschen unterschiedlicher Herkunft bes-ser integrieren und für unser Werte und Kultur begeistern kann. Dies hat, neben dem Gewähren von Bildungschancen, auch viel mit Akzeptanz und Respekt vor anderen Lebensentwürfen zu tun. Leider ist uns gerade diese kulturelle Integration, gerade bei Familien, die bereits in zweiter, drit-ter oder sogar vierter Generation bereits bei uns leben, nur bedingt geglückt. Hierzu muss die Bay-ernSPD in den nächsten Jahren viel Energie aufbringen. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass wir in der Zwischenzeit nur begrenzt weitere Zuwanderung zulassen dürfen. Dies wissen unsere aktuellen und ehemaligen Wähler, nur die BayernSPD oder der überwiegende Teile davon scheint diese Situation noch nicht komplett realisiert zu haben.
7. Demokratische Streitkultur und gegenseitiger Respekt
Obwohl das Thema Zuwanderung sicher für den Jahrzehnte andauernden Abwärtstrend der Bay-ernSPD nicht ausschlaggebend war, hatte es zumindest bei dieser Wahl auch einen Einfluss. Ohne die SPD-Position zu diesem Thema an sich weiter als unter 6. beschrieben diskutieren zu wollen, hat der Umgang mit den existieren Ängsten in der Bevölkerung dennoch eine gravierende Ent-fremdung zwischen den großen Parteien und der Bevölkerung gezeigt. Unabhängig davon, ob die Entscheidungen im Sommer 2015 richtig oder falsch waren, hätte auch die SPD deutlich sensibler auf die Ängste in der Bevölkerung reagieren müssen. Anstatt dessen hat man doch recht vor-schnell alle anderen Meinungen sofort in eine Ecke geschoben und sich mehr oder minder gewei-gert, mit den besorgten Menschen in einen erstgemeinten Dialog einzutreten.
Und die Flüchtlingskrise ist kein Einzelbeispiel. Die großen Parteien haben sich mittlerweile einen Reflex angeeignet, in emotional aufgeheizten Debatten andere Meinungen systematisch zu diffa-mieren. So entstand beispielsweise im Laufe der Krim-Krise der Begriff „Putinversteher“, jeder Un-terstützer des aktuellen amerikanischen Präsidenten gehört eigentlich ins Irrenhaus und alle Deutsch-Türken, die sich nicht sofort völlig klar gegen Erdogan aussprechen, sollten sofort in die Türkei abgeschoben werden, auch wenn es sich bereits um deutsche Staatsangehörige in zweiter oder dritter Generation handelt. Um hier nicht missverstanden zu werden: es geht nicht darum, was man hier richtig oder falsch findet, es geht um die Art, wie prinzipiell mit anderen Meinungen umgegangen wird.
In diesem Sinne fordern wir einen echten Neuanfang der BayernSPD – wir sind bereit, unseren Beitrag hierzu einzubringen.